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Die untergegangene Stadt

Unter der Oberfläche des Platzes, im Erdreich, ruhen die alten Fundamente, die Keller aus der Ordenszeit mit ihren Gewölben aus Feldsteinen und Ziegeln.

 Hinter Schakenhof taucht die gerade Chaussee fast überraschend in eine Allee schlanker, hoher Eschen ein. Sie senkt sich kaum merklich in Richtung eines großen Waldes, der die ganze Breite des Horizonts einnimmt. Der Wald scheint die Straße und den Wagen des Reisenden förmlich einzusaugen und überfängt ihn im Nu mit alten Laubbäumen, durch deren hohe Wipfel Bündel gelben Lichtes fallen, die den feuchten Waldboden mit Sonnenflecken sprenkeln. Spiegelnde Wasserstellen am Fuß der Bäume lassen an Sonnentau und nordische Orchideen denken, die hier wachsen mögen. Unerwartet öffnet sich der Wald vor dem Reisenden zu einer weiten Lichtung, deren dunkler Saum von Bäumen in der Ferne verschwindet. Lichte Wiesen mit duftigen Baumgruppen und ab und zu einem Haus bilden eine fast arkadische Schäferlandschaft, doch ohne Tiere, ohne Menschen, ein Land in sonnigem Schweigen. Aus einzeln stehenden Bäumen bildet sich im Vorbeifahren bald eine Allee aus alten Linden. Der Reisende fährt in ihrem Schatten, kurz senkt sich die Straße, als führe man durch einen früheren Stadtgraben, dahinter eine Steigung, eine Bergstraße und an ihrem Ende ein gotischer Turm, eine Ordenskirche. Gerdauen. Die Straße macht eine Biegung, der Wagen gleitet vorbei an Überresten städtischer Bebauung und dann öffnet sich der weite Marktplatz, der ohne seine umgebenden Häuserreihen in das Blau des Himmels gehoben wirkt wie ein vernachlässigter frühgeschichtlicher Opferplatz. Zeitenthoben. Die Gegenwärtigkeit dessen, was nicht mehr zu sehen ist, nimmt den Geist des Besuchers gefangen. Unter der Oberfläche des Platzes, im Erdreich, ruhen die alten Fundamente, die Keller aus der Ordenszeit mit ihren Gewölben aus Feldsteinen und Ziegeln. Wirkungsmächtig bis in die Gegenwart haben diese verschütteten Reste der Stadt erst kürzlich die ihnen aufgesetzte Leninstatue aus dem Gleichgewicht gebracht.
 Gerdauen ist ein besonderer Ort, das spüren auch die russischen Gerdauener. In romantischer Verklärung haben sie die Stadt mit neuen Sagen und Legenden versehen, manche Einwohner sammeln Relikte der Vergangenheit wie Reliquien. Die Hingabe an ihre Stadt verbindet deutsche und russische Gerdauener. Wer sich mit diesem Ort befasst, dem offenbart sich das „Einst“ in seinem Doppelsinn, der in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtet ist.
 Der deutsche Besucher wendet sich zur Ordenskirche und steigt über die enge, alte Stiege in der Turmmauer hinauf und über eine neue Eisentreppe bis in die Turmspitze. Von dort schaut er auf die Stadt und er sieht zwischen allem Zerfallenen Überreste der Geschichte aufragen wie Denkmäler, die hinweisen auf eine andere Zeit. Unter ihnen sind bedeutende Bauten von Könnern ihrer Epoche, die Gerdauen zu einem einzigartigen Ort gemacht haben: das Schulgebäude des Architekten Locke, Geschäftshaus Wolff und Schmiede Wiechmann des Baumeisters Stoffregen, das Landratsamt und das Krankenhaus des königlichen Baurats Heitmann. Und der Besucher erblickt zu Füßen des Kirchturms das mittelalterliche Torhaus, an dem vorbei jahrhundertelang Reisende aus Richtung Königsberg die Stadt betraten, und der Blick geht über Zeit und Raum hinüber zum Banktinsee, in dessen Wasserfläche sich der Himmel spiegelt, der einst den Ordensbrüdern und dem prußischen Edlen ihre Vision vom Untergang des Ritterordens eingab, und er schaut auf die Ruine der Ordensburg und den Burgberg des Girdaw und schweift über die weite Wiesenlandschaft mit ihren Baumgruppen und Alleen bis zum Horizont, zum Dawerwald, zum Wald Perses und zur großen Wildnis.

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Der Garten
Der Schriftsteller Hippel aus Gerdauen
Ein Garten spiegelt die Geschichte einer Stadt im 20. Jahrhundert.
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„Ein räthselhafter Sphinx“, eine skurrile Doppelnatur. Sein Streben nach geistiger Unabhängigkeit machte ihn zum Einzelgänger in seiner Zeit.
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Dschingis Kühn - Autor