Hinter der Kreuzung, hinter einem Gebüsch, steht der Streifenwagen, aus dem ein Polizist steigt und mit ein paar Schritten auf die Fahrbahn tritt.
Er hält sein Stoppzeichen einem Personenwagen hin, der mit beträchtlicher Geschwindigkeit auf ihn zu fährt und erst kurz vor seinen Füßen zum Stehen kommt.
Der Polizist tritt an die Fahrertür. Der Fahrer, ein älterer Herr, stellt den Motor ab und lässt das Fenster runter. Noch während der
Polizist mit zwei Fingern an den Schirm seiner Mütze tippt, spricht ihn der Fahrer an:
„Sagen Sie nicht, ich bin bei Rot über die Ampel gefahren.“
„Das ist eindeutig und unbestreitbar der Fall. Sie sind bei Rot über die Ampel gefahren.“
„Aber wie kann das sein? Die Ampel steht da völlig unbeschädigt. Wie soll ich drüber gefahren sein?“
„Nein.“ Der Polizist schmunzelt. „Sie sind bei Rot über die Kreuzung gefahren. Ist doch klar.“
„Und warum sagen Sie dann, ich wäre bei Rot über die Ampel gefahren?“, fragt der Fahrer nicht ohne einen Anflug von Vorwurf.
Der Polizist lächelt. „Weil Sie es mir in den Mund gelegt haben.“
„Im Gegenteil! Ich habe Ihnen gesagt: Sagen Sie nicht, ich bin bei Rot über die Ampel gefahren. Und Sie sagen es doch!“
„Egal. Sie kriegen eine Zahlungsaufforderung über 150 Euro zugeschickt. Ihre Papiere, bitte.“
„Habe ich richtig gehört?“ Die Stimme des Autofahrers wird spitz. „Haben Sie gerade gesagt, es ist Ihnen `egal´? Die Tatsachen sind Ihnen egal. Aber ich muss zahlen.“
„Die Tatsachen sind mir selbstverständlich nicht egal. Beruhigen Sie sich.“
Nun öffnet der Fahrer seine Tür, steigt mit rotem Kopf aus, klappt mit erzwungener Ruhe sorgfältig die Tür zu und stellt sich neben seinen Wagen, hörbar atmend.
„Wollen Sie tatsächlich sagen, dass ich mich beunruhigt habe?“
„Es sieht ganz so aus, ja.“
Der Fahrer bemüht sich, langsam und deutlich zu sprechen:
„Ich habe mich beunruhigt? Sie haben mich beunruhigt. Verdrehen Sie immer die Tatsachen in ihr Gegenteil?“
Der Polizist bleibt gelassen.
„Ich verdrehe niemals die Tatsachen in ihr Gegenteil.“
„Aber eben haben Sie nachweislich die Tatsachen in ihr Gegenteil verdreht. Lernt man das bei der Beamtenausbildung?“
„Bitte lenken Sie nicht vom Thema ab. Meine Ausbildung hat Sie nicht zu interessieren.“
Die Stimme des Autofahrers bebt:
„Sie schreiben mir also vor, was mich zu interessieren hat und was nicht. Wollen Sie immer noch abstreiten, dass Sie mich beunruhigen?“
„Das habe ich nie abgestritten.“
„Dann haben Sie mich also bewusst beunruhigt! Haben Sie mich bewusst beunruhigt, um mich unter emotionalen Druck zu setzen und zur Zahlung
von 150 Euro zur nötigen?“ Die Stimme des Autofahrers durchschneidet die Luft.
„Tun Sie das nur bei mir – oder auch bei anderen? Weiß Ihr Vorgesetzter davon?“
Langsam schwindet die Geduld des Polizisten.
„Mein Vorgesetzter hat damit überhaupt nichts zu tun.“
Der Fahrer messerscharf:
„Also tun Sie es aus eigener Veranlassung. Davon werde ich Ihrem Vorgesetzten Mitteilung machen.“
„Das ist doch völlig übertrieben. Sie machen einen Riesenaufstand wegen einer Lappalie. Sowas ist es gar nicht wert, sich aufzuregen.
– Setzen Sie sich in Ihr Auto und fahren Sie künftig nie wieder über eine rote Ampel.“
„Das gibt‘s doch nicht! – Jetzt behaupten Sie schon wieder, ich wäre über eine Ampel gefahren. Leiden Sie unter Wahrnehmungsstörungen?
Wie kann ich über eine Ampel fahren? Ich habe doch keinen Panzer.“
Der Polizist wendet sich vom Fahrer ab:
„Ich gehe jetzt. Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Wollen Sie fliehen? Das ist zwecklos. Ich habe mir Ihr Namensschild und Ihre Autonummer gemerkt.“
Der Fahrer ist heftig erregt.
„Ich werde alles melden, alles. Ihre Verdrehung von Tatsachen, Ihre falschen Anschuldigungen,
Ihr Unterdrucksetzen und Ihre unverschämte Geldforderung. 150 Euro! 150 Euro!!!“
Der Polizist dreht sich zum Fahrer um.
„Also gut. Hier haben Sie 150 Euro und lassen Sie mich endlich in Ruhe.“
Eilig entfernt er sich.
Der Autofahrer betrachtet die Geldscheine in seiner Hand, nachdenklich. Dann ruft er dem Polizisten hinterher:
„Bei Rot über die Ampel fahren kostet 250 Euro! 250!!“
Wie von einem Fußtritt getrieben, fängt der Polizist an zu laufen. Am Polizeiwagen vorbei. In die Landschaft. Im Laufen zieht er seine Jacke aus, dann sein Hemd und wirft sie weg.
Danach bleibt er noch einmal stehen, streift Schuhe, Strümpfe und Hose ab, schleudert sie auf den Boden, trampelt auf ihnen herum und läuft dann weiter.
Einmal humpelt er kurz, während er seine Unterhose über die Beine streift und fallen lässt.
– Nackend springt er über einen Graben und rennt über einen Acker auf den Waldrand zu.