Der Oberst hatte auf uns gewartet und als wir nicht gekommen waren, war er wieder gegangen. Das erzählte man uns, als
wir am Gerdauener Kulturhaus ankamen.
Wir hatten zwei Stunden zuvor mit dem Direktor des Kulturhauses verabredet, dass er beim Oberst anrufen und sich erkundigen sollte,
ob wir ihm einige Fragen stellen dürften. Wir wollten in der Zwischenzeit einen Gang um den Banktinsee machen und nach zwei Stunden im
Kulturhaus wieder nachfragen, was das Telefongespräch ergeben hätte. Der Direktor des Kulturhauses hatte telefoniert und obwohl er den
Oberst aus seinem Mittagsschlaf gerissen hatte, war dieser bereit gewesen, mit uns zu sprechen. Und nicht nur das, er hatte sich sogar
augenblicklich selbst auf den Weg gemacht und vor dem Kulturhaus auf uns gewartet.
Der Oberst gilt unter den Russen Gerdauens als eine der angesehensten Persönlichkeiten. Er ist dekorierter Held des Zweiten
Weltkriegs und hat sogar eine Anzahl Zeitungsartikel über seine Kriegstaten geschrieben, zwei seiner Texte sind im Museum des
Kulturhauses ausgestellt. Was ihn für uns aber vor allem interessant macht: Er hat als Offizier der Roten Armee 1945 die
Einnahme Gerdauens mitgemacht.
Dass der Oberst vergeblich auf uns gewartet hat, ist eine arge Enttäuschung für uns. Vera, meine russische Begleiterin,
sieht damit die Gelegenheit, ihn zu befragen als zerronnen an. Ich frage den Direktor des Kulturhauses, ob der Oberst denn
bei seinem Weggang verärgert war, und er sagt Nein, keinesfalls, der Oberst habe sich hier mit ein paar Leuten unterhalten
und sei dann gegangen; verärgert war er augenscheinlich nicht.
Also sage ich zu Vera: „Lass es uns einfach versuchen. Vielleicht gewährt er uns trotzdem ein Gespräch.“ Vera erkundigt
sich nach Namen und Adresse des Oberst, und wir beide gehen, so wie wir von unserer Seeumrundung kommen – ich mit Rucksack
und schmutzigen Schuhen –, zur Wohnung des Obersten.
Wladimir Iwanowitsch Nikolajew, der Oberst, wohnt in der Villa, in der sich früher die katholische Kapelle befand,
und zwar in der darüber liegenden Wohnung des Bauunternehmers Krause. Wir gehen die breite Treppe hinauf und als wir
vor der ledergepolsterten Tür stehen, die Nikolajews Wohnung wirkungsvoll abgeriegelt, sagt Vera: „Ich habe Angst.“
Vera ist russische Gerdauenerin. Sie kam 1947 als Dreijährige mit ihrer Familie hierher. Bis in die siebziger Jahre
lebte sie in dieser Stadt und verbrachte auch noch in den darauf folgenden Jahren ihres Universitätsstudiums viel Zeit hier
bei ihrer Familie. Jetzt unterrichtet sie Deutsch an einer Hochschule in Sankt Petersburg und ist nach mehreren Jahren zum
ersten Mal wieder in Gerdauen. Aus ihrer Erziehung im Sowjetstaat ist, wie ich sehe, immer noch ein tiefer Respekt vor den
Oberen des alten Systems lebendig. Ich versuche Vera zu beruhigen, indem ich sage: „Da er vorhin bereit war, mit uns zu sprechen,
wird er sich jetzt nicht feindselig zeigen. Es kann also nicht schlimm werden.“ Dann schlage ich ihr vor, was sie bei der
Begrüßung sagen soll, denn sie muss wegen meiner mangelhaften Russischkenntnisse für mich mitsprechen.
Auf unser Klingeln öffnet die Frau des Oberst. Sie ist eine rundliche alte Dame, die uns zuerst einmal missvergnügt betrachtet.
Vera beginnt, wie verabredet, ihre entschuldigende Einführung, die allerdings länger und länger wird, ohne dass die Frau eine Reaktion
zeigt. Das Gesicht der Dame offenbart mir, dass Veras Befürchtungen nicht unbegründet waren: Ihre hinabgezogenen Mundwinkel mögen
angeboren sein, aber das eiskalte Starren aus ihren Augenschlitzen gilt eindeutig uns. Während Vera redet und redet, mustert uns
die alte Dame von Kopf bis Fuß, einschließlich meiner verschmutzten Wanderschuhe. Als ihr Blick sich schließlich an Veras Mund
eingeklinkt hat, betrachte ich sie meinerseits: ihre volle Figur, die von keinerlei Entbehrungen zeugt, ihr straff zu einem Knoten
gebundenes Haar, das für ihr Alter etwas zu stark geschwärzt ist. Ihr Gesicht bleibt die ganze Zeit reglos, aber ich merke doch,
dass ihr Veras ehrfurchtsvolle Art angenehm ist. – So kommt es dann, dass, nachdem sie sich an Veras Freundlichkeiten satt gehört hat,
sie uns eintreten lässt. Und während wir im Flur warten, verschwindet sie im Hintergrund in halbdunklen Gemächern, um ihrem Gatten Meldung
von unserem Kommen zu machen.
Sie kehrt zurück mit der Botschaft, dass ihr Mann eingewilligt habe, uns zu empfangen. Dann führt sie uns den Flur entlang
ins Wohnzimmer, damit wir dort auf ihn warten. Sie selbst entschwindet. Das Wohnzimmer scheint nicht dem täglichen Aufenthalt zu
dienen, es wirkt mehr wie ein orientalischer Empfangsraum: entlang den beiden langen Wänden stehen einander gegenüber Sofas und
Sessel, und der Raum ist an Wänden, auf Fußboden und Sitzgelegenheiten mit Teppichen bedeckt, modernen Produkten mit Blumenmotiven;
sie geben dem Raum seine vorherrschende Farbe, ein intensives bläuliches Rot. An einer schmalen Wand steht ein voller Bücherschrank
mit vorwiegend großformatigen Werken in penibler Ordnung, eher Fachliteratur und Sammelwerke als Romane. Wir stehen wartend.
Als Oberst Nikolajew erscheint, bittet er uns sogleich, Platz zu nehmen. Vera verschmäht die Sofas und Sessel und platziert
sich nahe der Tür auf den einzigen Stuhl des Raumes. Da ich ihr Übersetzen brauche, setze ich mich in den Sessel daneben. Oberst
Nikolajew ist ziemlich klein, aber er bewegt sich mit betont aufrechter Haltung. Er trägt eine blaue Trainingshose und ein enges,
weißes Hemd, so dass man seinen fast schlanken, fast drahtigen Körper bewundern kann. Als er mir gegenüber Platz nimmt, fällt vor
allem sein kantiger, kahler Schädel mit dem faltenlosen Gesicht auf. Für seine 82 Jahre, von denen man uns erzählt hat, macht er
eine gute Erscheinung. Als ich sehe, dass er nach russischer Sitte in der Wohnung Socken ohne Schuhe trägt, versuche ich, meine
schmutzigen Treter aus seinem Blickfeld zu ziehen.
Nikolajew, im Sessel zurückgelehnt, sagt etwas zu Vera, woraufhin Vera zu mir sagt: „Stell deine erste Frage.“ Ich frage:
„Wann waren Sie zum ersten Mal in Gerdauen?“ „Am 21. oder 29. Januar 1945.“ Ich sage: „Die Stadt wurde in der Nacht vom 26. zum
27. Januar von der Roten Armee eingenommen.“ „Genau dann war es.“ „Wie ging das vor sich?“ „Ich leitete eine Kartjuscha-Einheit.
Wir hatten damals gehört, dass die deutschen Truppen Gerdauen verlassen hatten. Deshalb beschossen wir die Stadt nicht. Hätten
wir geschossen, wäre die Stadt zerstört worden. Ein Kartjuschawerfer verschießt 36 Raketen. Eine Raketensalve hätte die halbe
Stadt zerstört.“ „Sind Sie mit der kämpfenden Truppe in die Stadt gezogen?“ „Nein, als Gerdauen eingenommen wurde, lagen wir in
Altendorf. Als wir dann in Gerdauen einzogen, war das Stadtzentrum schon abgebrannt, es brannten noch zwei Häuser. Das hatten
die abziehenden deutschen Truppen getan.“ Ich weiß, dass das nicht richtig ist, denn die Stadt ist kampflos und unzerstört in
die Hände der Sowjets gefallen. Gerdauener Einwohner, die nicht auf die Flucht gegangen waren, und auswärtige Flüchtlinge, die
hier von der Front eingeholt wurden, haben erzählt oder aufgeschrieben, dass die Stadt damals unbeschädigt war und das Zentrum
an dem auf die Einnahme folgenden Tag von sowjetischen Soldaten geplündert wurde; an jenem Abend, also einen Tag nach der
Eroberung, wurden die Häuser am Markt, in der Wilhelm- und Poststraße und einige andere von den sowjetischen Soldaten in
Brand gesteckt.
Nikolajew merkt meine Verwirrung und schiebt als Erklärung hinterher: „Es hat schwere Kämpfe um die Stadt gegeben.“
Ich denke: Wie kann das sein? Vorher hat er doch selbst gesagt, dass die deutschen Soldaten die Stadt geräumt hatten.
– Aber vielleicht ist er ja so spät in Gerdauen eingerückt, dass er von der Brandschatzung der Stadt gar nichts
mitbekommen hat und nur wiedergibt, was die sowjetischen Soldaten, die es getan hatten, ihm als Lüge vorsetzen.
– Um mein Misstrauen nicht zu zeigen, spreche ich den Punkt nicht direkt an, sondern frage: „In welchem Abstand
zur kämpfenden Truppe sind Sie gezogen?“ „Wir sind immer hinter den Kampftruppen gezogen, niemals mit ihnen!“
sagt Nicolai jetzt sehr ungeduldig. Das ist hörbar ein Schlusspunkt unter dieses Thema. Um seine Redebereitschaft
nicht aufs Spiel zu setzen, beharre ich nicht auf der Sache und frage: „Was machten Sie danach?“ „Wir zogen weiter,
wir eroberten eine deutsche Stadt nach der anderen und drangen immer weiter nach Westen vor.“ „Wie weit sind Sie gekommen?“
„Bis westlich von Rostock. Dort haben wir uns Anfang Mai 1945 mit den englischen Truppen vereinigt.“ Vera will wissen,
ob Nikolajew an der Eroberung Berlins beteiligt war. „Njet“, sagt er ein bisschen verschämt. Dann erzählt er uns,
wie es nach dem Krieg weiterging. Er schied 1948 aus der Armee aus und wurde Forstbeamter in Kursk, südlich von Moskau.
Ein paar Jahre später ergab es sich, dass er wieder nach Ostpreußen fuhr. Er besuchte seine Schwester, die nach Rauschen
an der Ostsee gezogen war. Dort gefiel es ihm so gut, dass er in Kursk seine Versetzung beantragte. 1958 wurde sie ihm
gewährt, und er kam an das Forstamt in Rauschen. Zwei Jahre später wurde er nach Gerdauen versetzt und leitete hier
die Forstverwaltung des Distrikts.
„Wie sah Gerdauen aus, als Sie es 1960 wiedersahen?“ frage ich. „Wirtschaftlich schwach. Wir hatten zum Beispiel
in unserer Verwaltung nur zwei Lastwagen. Aber unter meiner Leitung wurden dann viele Maschinen angeschafft.“ Er zählt
die Maschinen auf, die unter seiner Leitung angeschafft wurden. „Dann wurde es in Gerdauen langsam besser. Zwischen
1972 und 1975 ging es hier allen gut.“ Nachdem Vera mir dieses übersetzt hat, fügt sie nur für mich hinzu:
„Das stimmt gar nicht. In jenen Jahren litten wir hier die größte Not.“ Nikolajew fährt fort: „1976 wurde ich
in den Ruhestand versetzt. Aber ich arbeitete trotzdem noch weitere siebzehn Jahre in der Gerdauener Forstverwaltung.“
Während des ganzen Gesprächs benutzen sowohl Vera wie er, wenn sie russisch reden, den deutschen Namen „Gerdauen“
statt des russischen „Schelesnodoroschnij“. (Ich selbst kann nur wenig Russisch, habe mich aber soweit eingehört, dass
ich manche Antworten schon verstanden habe, bevor sie mir übersetzt werden.) Nikolajew schließt die Schilderung seiner
beruflichen Laufbahn mit dem Satz: „Jetzt sitze ich hier und habe den ganzen Tag Feierabend“, wobei er milde lächelt.
Wir lächeln mit ihm.
„Haben Sie noch weitere Fragen?“ möchte er wissen. Ich habe nicht und Vera auch nicht. „Dann möchte ich etwas von Ihnen wissen“,
sagt er. „Warum fragen Sie mich das alles?“ Ich erzähle ihm, dass ich mich für die Geschichte Gerdauens interessiere und insbesondere
für die Zeit ab 1945, die für uns Deutsche weitgehend ein unbekanntes Kapitel ist. Vera übersetzt es ihm und fragt mich danach, ob sie
nicht auch erzählen soll, dass meine Familie aus Gerdauen kommt. „Ja, klar“ sage ich. So erzählt Vera, dass meine Großeltern ein
Geschäftshaus am Markt hatten, das heute wie fast alle Häuser dort nicht mehr steht; es befand sich neben dem Grundstück, auf dem
heute ein kleiner Brotverkauf steht, schildert sie ihm.
Da richtet sich Nikolajew in seinem Sessel auf. „Das Haus“, sagt er im Ton einer triumphalen Ankündigung,
„das Haus gegenüber dem Stalin“ (er verbessert sich) „Lenindenkmal, das haben – ich weiß es genau, denn eine Russin,
die Kriegsgefangene bei den Deutschen war, hat es mir erzählt – das Haus haben die deutschen Soldaten gesprengt.“
Das ist nun eindeutig gelogen. Während uns Nikolajew noch der Wirkung seiner Worte überlässt, ist er schon aufgestanden
und schreitet gravitätisch zum Bücherschrank. Er entnimmt ihm ein Blatt Papier und ein Foto. Er reicht uns das Foto, es zeigt
ihn in jüngeren Jahren mit energischer Miene und einer Jacke voller Orden. Nikolajew erläutert die Auszeichnungen: ein
Alexander-Newski-Orden, ein Polnischer Verdienstorden, zwei Rote-Fahne-Orden und eine Menge Medaillen. Als ich das Foto
mit seinem jetzigen Aussehen vergleiche, fällt mir auf, dass er sich nicht sehr verändert hat, und wenn ich aus dem
Sessel zu ihm aufblicke, halte ich es für gut möglich, dass er zu anderen Zeiten Furcht eingeflößt hat; mit seinem
etwas selbstherrlichen Auftreten und seiner erkennbaren Unduldsamkeit war er dem Anschein nach mal ein unerbittlicher
Vorgesetzter.
Er legt das Foto beiseite und liest uns das Blatt, das er in der Hand hält, vor, mit gehobener Stimme und leicht
geblähter Brust. Es ist eine Anerkennungsurkunde Stalins. Stalin dankt dem Oberst darin für seine Teilnahme bei der
Einnahme der Städte Minsk, Vilnius, Friedland, Prenzlau, Anklam, Neubrandenburg, Waren, Rostock, Bad Doberan und
noch etwa zehn bis fünfzehn anderer Städte. Bei der Nennung des Ortes Waren fällt mir das Schicksal der Familie es
Gerdauener Arztes Dr. Jacobson ein. Seiner Frau war mit ihren vier Töchtern die Flucht bis Waren in Mecklenburg geglückt.
Ende April wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen, den Leuten Nikolajews. Um den Gewalttaten der sowjetischen
Soldaten zu entkommen, tötete die Frau sich und ihre Kinder.
Als Nikolajew die Lesung des Dokuments beendet hat, bittet Vera um das Blatt. Es trägt im Kopf ein Porträt Stalins,
Vera fragt, ob auch die Unterschrift auf der Urkunde von Stalin ist. Der Oberst verneint etwas verlegen. Er erwähnt
dann noch, dass dieses nur eine Fotokopie ist, das Original habe er dem Museum von Friedland geschenkt.
Dort sei es ausgestellt.
Wir brechen auf. Nikolajew möchte zum Schluss seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen.
Er zitiert einen früher gelernten Satz: „Wollen wir zusammen in die Kantine gehen?“ Er wird dabei
etwas rot, und ganz rot, als wir ihn loben. – Wir danken ihm für das Gespräch und sagen noch ein
paar Komplimente, Nikolajew verabschiedet sich von uns, ohne Händedruck wie schon bei der Begrüßung.
Später im Auto fragt unser russischer Fahrer, ein siebzigjähriger ehemaliger Offizier, wie es war.
Ich erzähle es kurz und sage dann: „Alle einfachen Russen, die ich in Gerdauen gesprochen habe, haben die
Wahrheit gesagt, auch wenn es Nachteiliges war. Der einzige, der gelogen hat, war der Oberst.“ –
„Das wundert mich nicht“, sagt der Ex-Offizier. „Das ist die Schulung der Roten Armee.“